Dehnen – Was es bewirkt und wann der richtige Zeitpunkt ist

Das Thema “Dehnen” gleicht in der Fachpresse einer never Ending Story: Viele verschiedene Meinungen und noch mehr Mythen wie Dehnen vor dem Sport verbessert die Leistung, Dehnen beugt Muskelkater vor oder Dehnen hilft bei Schmerzen. Verwirrende Positionen, die am Ende eins zu sagen scheinen: Macht doch wie ihr wollt. Naja, ganz so ist es dann doch nicht. Und auch wir stehen immer wieder vor der Aufgabe, diese Frage zu beantworten. Bei jedem einzelnen. Denn: Dehnen ist im Grunde so individuell wie Euer Training selbst. ABER: Auch beim Training gibt es Grundsätze, die sich bewährt haben. Warum? Weil Muskeln bestimmten Funktionen unterliegen, die grundsätzlich bei allen gleich sind.

Was passiert beim Dehnen mit dem Muskel?

  • Längeres Dehnen (10 bis 15 Sek.): setzt den Muskeltonus herab (der Muskeltonus ist der Spannungszustand Eures Muskels)
  • Kurzes Dehnen (10 Sek) aktiviert den Muskel
  • Beim Dehnen wird die Blutzufuhr im Muskel vermindert

Was bedeutet das für mein Training?

Beim Training wollt Ihr euren Muskel beanspruchen, er soll Leistung bringen. Das bedeutet, er muss eine gewisse Spannung (aus-)halten können. Wenn Ihr vor dem Training Eure Muskeln länger dehnt, d.h. länger als 10 Sek. setzt ihr den Muskeltonus herab, die Blutzufuhr im Muskel wird vermindert und folglich bringt er weniger Leistung. Wenn Ihr euch auf Euer Training vorbereitet, solltet Ihr Euch immer aufwärmen. Klassischerweise wird dazu meist zu einer Cardio-Einheit von 15 min geraten. Möglich ist aber auch ein Aufwärmen, das nicht auf das Herz-Kreislauf-System geht wie zum Beispiel über “Foam-Roller”, auch als “Blackroll” bekannt.
Nach dem Aufwärmen könnt Ihr die Muskelgruppen, die Ihr beanspruchen wollt, kurz dehnen. Hier sei aber erwähnt, dass es bisher keine tragfähige Studie gibt, die eine Verbesserung der Leistung im Training durch vorheriges Dehnen bestätigt. Wenn Ihr aber subjektiv den Eindruck habt, dass es Euch etwas bringt, behaltet das kurze Dehnen gerne bei.
Während des Trainings ist Dehnen nur im Kraftsport sinnvoll – und nur bei den Muskelgruppen, die Ihr in der Trainingseinheit nicht mehr beanspruchen wollt. Dann könnt Ihr die Pausen zwischen den Einheiten zum Dehnen nutzen, um Euren Muskeln zu sagen: “Ihr habt Feierabend für heute.” Somit wird klar, dass Dehnpausen bei längeren Läufen wenig sinnvoll sind (auch wenn man das immer wieder beobachten kann).
Nach dem Training könnt Ihr die beanspruchten Muskeln länger dehnen, um den Muskeltonus wieder herabzusetzen. Aber auch hier gilt: Erwartet vom Dehnen keine Wunder! Es gibt viele Mythen, die um die Wirkung von Stretching nach dem Sport kursieren. Wir haben Euch einige zusammengestellt:

 

1. Dehnen kann die Beweglichkeit verbessern + hilft bei Verspannung

Ja, in Kombination mit Faszienbehandlungen wie Massagen und gezieltem Krafttraining, um muskulären Dysbalancen entgegenzuwirken. Diese erkennt Ihr daran, dass auch regelmäßiges Stretching keinen Erfolg herbeiführt. Was passiert? Der Muskel versucht die Aufgabe eines anderen zu übernehmen, dadurch ist er überfordert und in der Folge auf Dauerspannung. Diese Verspannungen kann Stretching allein nicht beheben, allerdings es kann die Beschwerden lindern und erleichtert die Arbeit an den tiefer liegenden Ursachen, die Euer Physiotherapeut finden und gezielt behandeln kann. Klassisches Beispiel sind Verspannungen im Nackenbereich durch Schreibtisch-Arbeit: Wenn Ihr das Gefühl habt, dass regelmäßige Dehnübungen Euch Linderung verschaffen, macht das gerne. Aber allein durch Dehnen werdet Ihr die Verspannungen nicht los, denn der Muskel will immer wieder in die “gelernte” Position.

 

2. Dehnen beugt Verletzungen vor

Ja, wenn es spezifische und angeleitete Dehnübungen sind. Gerade bei Menschen die vor allem sitzenden Tätigkeiten im beruflichen Alltag nachgehen, ist die hüftbeugende Muskulatur meist verkürzt. Hier können gezielte Dehnübungen bei allen sportlichen Aktivitäten, in denen das Bein hinter das Körperlot gebracht wird (Laufen, Walken, Sprinten etc) das Verletzungsrisiko minimieren.
Aber bitte nicht vor dem Sport! Hier schützt keine der klassischen Dehnübungen vor Verletzungen.

 

3. Dehnen nach dem Training verhindert Muskelkater

Nope. „Intensives Stretching nach sportlichen Tätigkeiten kann den Muskelkater sogar verstärken”, sagt Professor für Bewegungswissenschaft Dr. Jürgen Freiwald. Für die Regeneration muss die Durchblutung gefördert werden (siehe oben) und das könnt Ihr am besten mit Massagen, Saunagängen oder Wechselduschen erreichen.
Auch das Dehnen vor der ­Be­las­tung verhindert den Muskel­kater nicht. Das haben Ver­suche ge­zeigt, bei denen Sportler ein Bein dehnten und das andere nicht. Muskel­kater hatten sie nach dem Training entweder beid­seitig oder gar nicht.

 

4. Den Muskel in der Serienpause dehnen?

Nein. Die Muskulatur, die trainiert wird, in der Serienpause zu dehnen, ist völliger Blödsinn. Wie eingangs schon beschrieben, ist das absolut kontraproduktiv und sogar gefährlich. Nach ausbelastenden Sätzen bleiben Kontraktionsrückstände (noch kontrahierte Muskelfasern), die durch Dehnen nicht ohne Schädigung gelöst werden können. Die angebliche Begründung, dass sich Muskeln beim Training verkürzen und durch das Stretching wieder verlängern, ist falsch: Die Länge Eures Mus­kels ist genetisch festgelegt und an die Länge des Kno­chens logischerweise angepasst.
Wie gesagt, dehnt die Muskelgruppen, die Ihr nicht mehr beanspruchen wollt, aber nicht mehr.

 

5. Dehnen steigert die Leistung

Nein. Dehnen vor dem Training oder Wettkampf verbessert die Leistungsfähigkeit nicht. Im Gegenteil, in vielen Studien verringerte das passiv-statisches Dehnen die Maximalkraft um 4 – 20 % und die Schnellkraft fiel zwischen 3 -10 % (Avela et al., 1999). Die Folge: Bei Sprints oder Richtungswechseln werdet Ihr sogar langsamer. Eine weitere Studie (Thienes, 2003) zeigte außerdem, dass sowohl passiv-statisches Dehnen als auch eine Mobilisation in der Serienpause einen negativen Einfluss auf die Kraftausdauer hatte.

Fazit:
Dehnen kann die Beweglichkeit verbessern, den Muskel geschmeidiger machen und kurzfristig gegen Verspannungen helfen. Mehr aber auch nicht.

 

Jetzt interessiert uns natürlich brennend, wie Ihr es mit dem Dehnen haltet :) Was sind Eure Erfahrungen? Konnte gezieltes Dehnen Euch helfen? Wenn ja, in welcher Kombination und gab es zusätzliche Thearpiemethoden? Schreibt uns einen Kommentar, wir freuen uns auf Euch!

Euer PhysioAktiv-Team